Weizen, mein persönlicher Endgegner
Als ich mich mit meiner Ernährung als Typ 1 Diabetikerin zu befassen begann, stieß ich auf eine für mich unerwartete Entdeckung: Lebensmittel aus Weizen sorgten bei mir für die höchsten und längsten Gluko-Kicks, vor allem dann, wenn ich mich nach dem Essen wenig bewegen konnte.


Mein Weg der Erkenntnis
Es klingt erst einmal simpel: man isst, bewegt sich nicht, Blutzucker steigt. Jedoch waren bei mir die Höhe und Dauer der Gluko-Kicks nach der Weizeneinnahme auffällig langwierig, sei es nach Nudeln, Pizza oder sogar meinem selbstgemachten (Vollkorn-) Brot.
Bereits früh nach meiner Typ 1 Diagnose fing ich an, Brot selbst zu backen und verwendete dazu stets ein Gemisch aus Weizen- und Dinkelmehl. Ich aß jeden Tag dieselbe Anzahl von Scheiben mit relativ gleichbleibendem Belag – daher spritzte ich auch stets dieselbe Menge Insulin. Was ich jedoch mit der Zeit als zunehmend befremdlich empfand, war die unterschiedliche Wirkung des Insulins nach dem Frühstück. Manchmal dauerte es einige Stunden, bis das Insulin wirkte, und plötzlich hatte ich bereits auf dem Arbeitsweg eine Unterzuckerung. Was auf dem Fahrrad nicht das beste Timing war.
Mein Tick führte mich zur Lösung
Meine systematische Beobachtung dieser Vorgänge führte mich zu einem Verdacht. Kochen und Backen ist mein Hobby seit Kindertagen, daher halte ich mich aus Gewohnheit nie exakt an Rezepte. Rezepte waren für mich stets eine Inspiration, nie eine exakte Vorgabe. Mein Augenmaß war immer ausschlaggebend – das Ergebnis ist dennoch (meistens) überzeugend. Aus diesem Grund fiel das Mischverhältnis von Weizen- und Dinkelmehl bei jedem meiner Brot-Backvorgänge unterschiedlich aus. Diese Gewohnheit ermöglichte mir jedoch die folgende Beobachtung: je höher der Anteil an Dinkelmehl in meinem Brot war, desto schneller und besser reagierte das gespritzte Insulin auf mein Frühstück.
Daher entschied ich mich, schrittweise das Weizenmehl in meinem Brot zu ersetzen. Die Ergebnisse waren verblüffend, erst recht, als ich auch das Dinkelmehl reduzierte und zunehmend durch Leinsamen und Flohsamen ersetzte. Seit dieser Entdeckung hat mein Frühstück keine Gluko-Kicks mehr verursacht (Brot-Rezept).
Woher kommt eigentlich unser Hang zum Weizen?
Eines Tages las ich – eher zufällig und unabhängig von meinem Typ 1 Diabetes – das Buch „Macht und Fortschritt“ (Acemoglu / Johnson, 2023) der Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2024. In diesem Werk befand sich ein Kapitel zur historischen Herleitung der Bedeutung von Weizen in unserer Gesellschaft. Dabei wurde die These vertreten, dass Gesellschaften seit der Sesshaftwerdung des Homo Sapiens vor 10.000 Jahren auf Getreide und vor allem Weizen aufgebaut wurden. Ohne Kultivierung und Speicherung von Weizen hätte sich nie eine Hochkultur dauerhaft entwickelt und vor allem auch langfristig gehalten. Aber genau darin liegt das Problem unserer heutigen Gesellschaft.
Die Vorteile sind keine mehr
Die Vorteile des Weizens – einfache Kultivierung, Ernte, Speicherung, Transport, Verarbeitung, Vielfältigkeit, Energiedichte, etc. – waren für die Entwicklung der frühen und auch mittelalterlichen menschlichen Gesellschaften entscheidend, denn so konnte mit relativ wenig Nahrung viel Energie für lange, körperlich anstrengende Arbeiten gewonnen werden. Unsere heutige Gesellschaft ist jedoch nicht mehr auf schwere körperliche Arbeit mit viel Anstrengung und Bewegung ausgerichtet, sondern – im Gegenteil – auf langfristig sitzende Tätigkeiten und Bewegungsmangel. Die weizen- und kohlehydratreiche Ernährung haben wir mit dieser Veränderung nicht angepasst, sondern vielmehr in den letzten Jahrzehnten des Wohlstands eher noch verstärkt. Zahlreiche (sog. Zivilisations-) Krankheiten sind vermutlich die heutige Folge.
Sitzen mag keine Stärke und keinen Weizen
Meine persönliche Erkenntnis aus all diesen Fakten: wer sich als Typ 1 Diabetiker dauerhaft viel und anstrengend bewegt, kann mit Nudeln und Pizza viel Energie gewinnen und diese auch konsumieren. Wer jedoch den gesamten Tag im Büro, Homeoffice oder generell viel sitzt und sich wenig bewegt, bekommt bei hoher Zufuhr von Weizen- und Stärkeprodukten die daraus resultierenden Gluko-Kicks nur schwer in den Griff. Kurz gesagt: je mehr sitzen, desto weniger Weizen.



